Florian Melchert

Heute oder Morgen?

 

 

Ist es so schlecht zu sterben?
Wie ein Vogel flog die Idee durch ihren Kopf, während sie die tote Taube auf der Straße beobachtete.
Vielleicht war es auch ein Rabe, genau konnte sie den mit Öl überzogenen Haufen aus Blut, Innereien und Federn nicht identifizieren.
Sie rührte sich nicht, als ein Auto an ihr vorbeizog. 
Sie beobachtete, wie es geradewegs über den elendigen Haufen Verwesung hinwegfuhr.
Letztendlich kehrte sie sich doch ab und lief nach Hause, doch der Gedanke ließ sie nicht los.
Er verdeckte ihr Augen und Ohren, weshalb sie nicht das seicht brennende Feuer am Horizont sah, welches die wolligen Wolken wie ein Seidentuch umschlang und die munter singenden Vögel sowie die geduldig zuhörenden Bäume in ein warmes Licht tauchte, um sich von ihnen zu verabschieden.
Vor ihren Augen lag immer noch nur der ölige Haufen Verwesung und die Frage, ob es schlecht ist, heute schon zu sterben.
Ja, sie wurde den Gedanken nicht los …
Ihr Buch, welches sie noch gestern voll Spannung aufgesogen hatte, war mittlerweile zu deprimierend.
Sie setzte sich an ihre deprimierenden Matheaufgaben, doch konnte sich nicht konzentrieren.
Sie machte den Fernseher an, weil sie sich nicht konzentrieren konnte und sofort flog der lästige Gedankenvogel wieder in ihren Kopf.
Ist es so schlecht, jetzt schon zu sterben?
In den Nachrichten wurde, wie schon die ganze Woche, von Naturkatastrophen berichtet.
Sie machte den Fernseher wieder aus, aß etwas und ging ins Bett.
Sie schlief kaum, stand trotzdem früh auf, aß aufs Neue und machte sich auf den Weg zur Bibliothek, immer noch den Gedanken im Kopf.
Vielleicht würde ihn die Arbeit verscheuchen, ersticken in all den Büchern, welche sie heute wahrscheinlich sortieren wird.
Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht, der Gedanke konnte verdammt lange die Luft anhalten …
Nachdem sie alle Bücher sortiert hatte, streifte sie etwas durch die Regale und dachte über die Nachrichten der letzten Tage nach.
Eine gescheiterte Verkehrswende, eine weitere Verzögerung des Kohleausstieges, Waldbrände, Fluten und noch mehr und noch mehr und noch mehr. 
Nun hatte sie das Gefühl, unter ihren Gedanken zu ersticken …
Ist es so schlecht, heute schon zu sterben?
Sie war beim letzten Regal angekommen und wollte umdrehen, als sie einen Mann zwischen den Regalen sah, der offensichtlich etwas suchte.
»Kann ich helfen?«, sie stellte sich zu ihm.
»Ich suche nur ein Buch, nein eine Geschichte …«, antwortete er während er weitere Bücher hastig öffnete, durchblätterte und wieder schloss.
»Kennst du den Namen?«, sie sah ihn erwartungsvoll an. 
»Nein, ich kenne nur den ersten Teil der Geschichte, aber ich muss unbedingt wissen, wie sie endet.«
»Willst du mir die Geschichte vielleicht erzählen? Nur so weit wie du sie noch im Kopf hast, vielleicht kenne ich sie ja.«
»Na gut.« Noch immer durchstöberte er Bücher, doch fing er währenddessen an zu erzählen: »Die Geschichte beginnt in einer modernen und wohlhabenden Stadt.
Diese wurde von den fünf mächtigsten Familien, welche seit Generationen in der Stadt lebten, regiert.
Je ein Vertreter jeder Familie saß an einem runden Tisch im Palast und beriet mit den anderen über alle Regierungsfragen.
Am Ende solch einer Diskussion fällte dann der König, der alle vier Jahre vom Volk gewählt wurde, eine Entscheidung.
Das Volk schätzte die Demokratie, weshalb der Herrscher immer stark mit seinem Volk verbunden war. 
Volk und Herrscher schufen gemeinsam eine Zeit, welche von Wohlstand und Frieden geprägt war.
Man wehrte sich gegen äußere Feinde, bekämpfte Gewalt im Inneren und entwickelte immer neue Technologien.
Die Stadt war der Himmel auf Erden, bis eines Tages ihre schlausten Köpfe zum Rat kamen, um ihn zu warnen.
Sie sagten, die Stadt sei in Gefahr, da der Wassergott neidisch auf die angesammelten Reichtümer blicke und drohe die Stadt zu verschlucken.
Sie meinten, man könne ihn nur besänftigen, wenn man sich in Verzicht übe.
Täte man das nicht, wäre alles verloren.
Darauf berieten die fünf Häuser lange, doch auf welches Ergebnis sie kamen, weiß ich nicht mehr.
Deswegen suche ich nach der Geschichte.«
Sie ging die vielen Bücher durch, die sie schon gelesen hatte, doch sie konnte der Geschichte keinen Titel zuordnen.
Sie war kurz davor dem Fremden bei der Suche zu helfen, als ihre Chefin sie antippte, um sie zu sich zu holen.
Der Mann und sein Buch gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Er hatte erfolgreich den Gedankenvogel aus seinem Nest vertrieben und sich selbst darin niedergelassen.
Schon einen Tag nach ihrem Treffen wollte sie wissen, ob er die Geschichte gefunden hatte und lief am Nachmittag als Gast in die Bibliothek.
Der Mann war nirgends zu sehen, doch in dem Regal, an dem sie sich getroffen hatten, entdeckte sie ein Buch, auf welchem ein Zettel klebte: »Ich habe es gefunden. Danke für die Hilfe! Es sind mehrere kurze Geschichten, aber die, von der ich erzählt habe, kannst du auf Seite 133 fortsetzen.«
Sie schlug das Buch auf, setzte sich auf den Boden und las: »Nun, wie dem auch sei, die Abstimmung ist morgen, doch ich werde ihr nicht beiwohnen, ich werde die Stadt schon heute verlassen und jeder mit gesundem Menschenverstand tut es mir gleich. 
Die Herrscher sollen Verzicht durchsetzen?
Die scheren sich zu sehr um ihre Stimmen!
Gelbäugig blicken sie voll Gier auf das Gold und blauäugig auf die Zukunft.
Die Schwachstelle der Demokratie ist die Demokratie selbst! Denn ein demokratischer Herrscher ist auf das Wohlwollen der Bevölkerung angewiesen …
Doch ein guter Herrscher tut nicht das, was ihn beliebt macht, sondern das, was er tun muss. 
Doch wer kann es schon ändern?
Ich nicht, darum verabschiede ich mich von dir, meine schöne Stadt, mein schönes …« Das letzte Wort ließ ihr Herz einen Sprung aussetzen: »schönes Atlantis.« 
Und auf einmal war die Frage wieder da: Ist es schlecht, heute schon zu sterben?