Angelika Schütte
Ziehendes Volk — Jahrmarkt des Lebens
Die letzten Wochen haben Florian aufgewühlt. Seine Seele flirrt, wie die hitzige Luft über den strohgelben Stoppelfeldern. Hier am Steg weicht sie nun nach und nach der herankriechenden Kühle von der Oberfläche des Sees. Die Luft trägt die Feuchte des Wassers in die Auen. Florian Bleibtreu genießt diese Zeit vor dem Sonnenuntergang.
Früher war dies seine Angelzeit gewesen. Nach der hektischen Arbeit im Großlager fand er hier seine Entspannung und später, als Anja starb, seine Seele Ruhe. Auch heute kommt er wieder hier hin, um seine Seele ins Gleichgewicht zu bringen.
Als sein Sohn Fin noch nicht pubertierte, nahm er ihn oft mit, um zu angeln. Fin blieb still neben ihm sitzen und warf seine Köder, sicher und gezielt, weit in den See aus. Aber seit er erwachsen ist, angelt er nur noch Mädchen, eine nach der anderen, keine für lange und manchmal mehrere gleichzeitig.
Jetzt heißt sie Mara und ist nett. Es scheint etwas Beständiges zu werden. »Gut so«, denkt Florian. »Gerade jetzt, in dieser schweren Zeit wird er jemanden brauchen, der ihm hilft, sein eigenes Leben von meinem zu lösen.«
Für Florian ist die Zeit gekommen Abschied zu nehmen, Abschied vom See, von seinem Sohn, vom Leben. Hier am Steg weicht die Unruhe, löst sich seine Anspannung, wird seine Angst zu Wehmut.
Florian schaut dem Kranich nach, wie er im Wasser steht und sich die Füße kühlt. Er wartet auf den Sonnenuntergang. Kurz vorher fliegt er noch ein letztes Mal hinaus, sein Nachtmahl einzunehmen.
Die Tage sind schon kürzer und die Wärme des Altweibersommers weicht schneller der Kühle der Nacht. Vom hölzernen Bootssteg aus hat Florian einen freien Blick auf die rote Feuerkugel. Er setzt sich auf den Steg, lässt die Beine ins Wasser baumeln und lehnt seinen schmerzenden Rücken an den Bootspfosten. Tief atmet er die frische, feuchte Luft der duftenden Wiesen ein, ein Duft nach wildem Schnittlauch und Dorst.
Die Abendsonne schiebt sich zwischen die Berge, färbt sie rot und grau, fällt hinunter, bis sie selbst nur noch Schein ist und die Berge schwarz sind, wie eine Scherenschnittkulisse, vor dem dunkelblauen Horizont. Der See glitzert den Himmel wider.
Es wird still. Nur ab und zu zeugt ein leises Plätschern der Nachtjäger im See davon, dass nicht alles schläft, wenn es dunkel wird. Heute bleibt Florian am See. Niemand wird zu Hause auf ihn warten. Er schließt die Augen.
Plötzlich ein Tönen und Lärmen, wie ein Jahrmarkt, der näher kommt. Tausend Gespräche, Gerede, Geplärre, ein Schnattern und Krächzen schwirrt durch die Luft. Rauschen erfüllt sie, als ob sich das Meer mit Getöse herabbräche, hier über den Steg, über den Kranich, über den See. Eine Welle am Himmel, eine Wolke, alles verdunkelnd, sich flatternd und lärmend hinabsenkend, wie auf einen einzigen Befehl. Das ziehende Volk hat sich auf dem Wasserspiegel niedergelassen, ihn mit ihren Federdecken zugedeckt, laut und unverschämt lebendig.
Doch auch die Gaukler werden müde. Der Jahrmarkt wird stiller. Vereinzelt wird noch erzählt, vom Tag, vom Vergangenen. Florian sitzt und lauscht: »Für eine Nacht ein wundervolles Geschenk der Geschöpfe aus der Zwischenwelt«, flüstert er und atmet die kühle Luft tief ein.
Die Gaukler bleiben, bis sich am Morgen das Volk, wie zu einem einzigen Wort, wieder erhebt und in den Himmel steigt, der ewigen Ordnung folgend. Der Jahrmarkt zieht weiter. Nur der alte Kranich bleibt, sitzt auf dem nackten Ast, der schon vor langer Zeit gefallenen Weide am Ufer. Er weiß vom Gehen und Kommen.
In diesem Jahr wird er nicht mit den Gauklern ziehen, wird nicht mit dem fahrenden Volk reisen, wird bleiben, wird sich neben Florian auf den Bootssteg stellen, Fischer bei Fischer und er wird bei ihm bleiben, bei ihm, der in der Nacht Abschied nahm. Er wird bleiben, bis jemand ihn findet.