Helmut Blepp
Begegnungen im Wind
Frau Wollschon hatte an Deck Platz  genommen. Die Stühle neben ihr waren leer. Und so trist wie diese menschenleere  Plattform kam auch sie sich vor.
Es wäre ihr  schwergefallen, zu erklären, wann sie den Anschluss an das Leben verloren  hatte, weshalb sie plötzlich allein war und keinen Spaß mehr an den Dingen  fand, mit denen andere sich beschäftigten. Die Arbeit im Büro absolvierte sie  lustlos. Nachts schlief sie tief und fest, weil es nichts für sie gab, das sich  zu erträumen lohnte. 
Seit sie an Bord dieses  Schiffes gekommen war, fragte sie sich, wie sie hatte auf die dumme Idee  verfallen können, eine Kreuzfahrt zu machen. Nun saß sie Tag für Tag entweder  allein in ihrer Kabine oder mit Fremden, die sich nicht für sie interessierten,  bei Tisch. Und ab und zu trotzte sie im Friesennerz dem feuchten und windigen  Wetter einen Spaziergang ab, um anschließend in einem Liegestuhl ihre  Grübeleien fortzusetzen. Und das tat sie auch jetzt.
Erst als er direkt vor ihr  stand, wurde sie eines Mannes gewahr, der sie erstaunt ansah. 
„Bist du es?“, rief er  aus. „Bist du es wirklich?“ 
War sie es?
„Mensch, altes Mädel,  kennst du mich nicht mehr?“
Er schien enttäuscht. Sie  schaute ratlos in sein offensichtlich von vielen Entbehrungen gezeichnetes  Gesicht und sagte spontan: „Natürlich kenne ich dich.“ 
Natürlich kannte sie ihn  nicht, war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.
„Wie könnte ich dich  vergessen haben?“, sprach sie weiter, ohne sich selbst klar darüber zu sein,  weshalb sie das tat.
Sein Gesicht verdüsterte  sich.
„So natürlich ist das  nicht. Die anderen haben mich vergessen. Ich habe schon ewig nichts mehr von  ihnen gehört. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch leben. Ist das nicht  schlimm?“ 
„Gräm dich nicht“,  tröstete sie ihn. Sie fand irgendwie Gefallen an der Situation und setzte nach:  „Sie sind es nicht wert, dass man um sie trauert.“ 
„Recht hast du! Ich werde  sie einfach vergessen.“ Und lächelnd stellte er fest: „Jetzt habe ich ja dich  wiedergefunden.“ 
Doch seine Stimmung  wechselte abrupt, und in vorwurfsvollem Ton fuhr er fort: „Aber auch du hast  mir nicht mehr geschrieben. Ich habe immer auf eine Nachricht gewartet, aber  kein einziges Mal hast du dich gemeldet. Warum nur?“
Sie versuchte, seinem  anklagenden Blick auszuweichen, aber es gelang ihr nicht. 
„Es war eben …“ Sie  suchte nach einer Rechtfertigung. „Es war einfach so, dass ich glaubte, du  seiest tot.“ 
Seine Kinnlade klappte  herunter. 
„Das war ich auch“,  nickte er eifrig. „Ich hätte nie gedacht, dass sich das herumspricht.  Tatsächlich habe ich viel gelitten, bevor es dann mit mir zu Ende ging. Aber  jetzt bin ich ja wieder auf dem Damm.“ 
„Und das ist wohl die  Hauptsache“, bestätigte sie ihm. 
Der Mann war offenbar  verrückt. Ihr schien nun Vorsicht geboten. Sie wollte ihn nicht vor den Kopf  stoßen. Er war ziemlich groß. Seine Bewegungen wirkten fahrig. Am besten war es  wohl, auf ihn einzugehen. So fragte sie ihn: „Und woran bist du denn  gestorben?“ 
„An Einsamkeit“, bekannte  er mit Grabesstimme, „die schrecklichste aller Todesursachen. Kannst du dir  vorstellen, was es heißt, an Einsamkeit zu sterben?“ 
„Nein, das kann ich  wirklich nicht“, log sie. „Aber es tut mir von Herzen leid, dass es dir so  schlecht ergangen ist.“
Die Situation hatte den  Reiz verloren, den sie anfangs für sie besessen hatte. Der Kerl war unheimlich.  Wachsendes Unbehagen beschlich sie.  
Der Fremde sah sie  eindringlich an, sein Blick war unstet und wachsam, seine Lippen  zusammengepresst. Was ging wohl hinter dieser gefurchten Stirn vor? Was  erwartete er von ihr? 
„Mann, was guckst du denn  so belämmert! Es scheint mir nicht gerade, als seiest du übermäßig froh, dass  wir uns getroffen haben.“ 
„Wie kannst du nur so  etwas sagen?“, tat sie empört. „Ich habe dich doch auch vermisst.“ 
Das besänftigte ihn. 
Sie überlegte, wie ich  ihn loswerden könnte, ohne ihn gegen sich aufzubringen. Nach wie vor empfand sie  ihre Lage als bedenklich und spürte, dass sie immer nervöser wurde. 
„Mein Gott, was für ein  Zufall“, rief da plötzlich eine Stimme hinter ihr. 
Sie drehte sich um und  sah einen Unbekannten, der freudestrahlend auf sie zukam. Noch ein Verrückter! 
„Ich habe doch ein  Glück“, sprach er weiter. „Erst sieht man jahrelang keinen mehr und jetzt  treffe ich gleich euch beide.“ 
Ihr erster „Freund“  konnte, wie es schien, mit dem Neuankömmling genauso wenig anfangen wie sie. 
„Ihr müsstet euch mal  sehen können! Steht da wie die Ölgötzen! Ich weiß ja nicht, aber unser  Wiedersehen hatte ich mir anders vorgestellt.“ 
Ihr fiel keine passende  Antwort ein. Aus diesem Grund machte sie den Vorschlag, gemeinsam in den  Speisesaal zu gehen, um mit einem Glas Sekt auf ihre Begegnung anzustoßen. Sie  hielt das zumindest für besser, als weiter mit den zwei Irren allein an Deck zu  verharren. 
„Ah, endlich wieder die  Alte“, rief ihr neuer Freund aus. „So habe ich es gern! Aber wisst ihr was? Im  Speisesaal ist doch tote Hose. Lasst uns dieses unverhoffte Treffen ganz  zünftig in der Schiffsbar begießen!“ 
Er legte seine Arme um ihrer  beider Schultern, und sie machten sich widerspruchslos auf den Weg. In der noch  schwach besuchten Bar fanden sie eine schummrige Nische und ließen sich dort  nieder.  
Sie tranken ein Glas  Wein. Sie tranken zwei Gläser, dann jeder ein drittes, erzählten sich dabei wie  alte Freunde, was sie die letzten Jahre über gemacht hatten. Und während sie  berichteten und lachten, spürte Frau Wollschon, wie in ihr Inneres ein wohliges  Gefühl zurückkehrte. Fast überschwänglich bezeichnete sie die beiden Fremden  immer wieder als Freunde und hatte dabei nicht mehr das Gefühl, zu heucheln.  Als die alte Kapitänsuhr Mitternacht meldete, brachen sie fast unwillig auf. Am  nächsten Morgen wollten sie sich zum Frühstück treffen. 
Etwas beschwipst und mit  gelöster Brust ging Frau Wollschon durch die weiten Korridore zu ihrer Kabine. Einmal  hüpfte sie sogar übermütig auf einem Bein und belächelte sich selbst dabei. Sie  freute sich auf den nächsten Tag.