Maurice Hönscher

Bis zu meiner Hochzeit

 

 

Kaffeedampf steigt über frisch aufgeschnittenen Brötchen empor. Als ich uns einschenke, erblickt Oma meinen zerkratzen Unterarm und stößt, wie aus Reflex, ein lautes „Was hast du denn da wieder gemacht?” hervor. 
Meines Erachtens betont sie dabei das „wieder” unnötig stark. Zugegeben, ich bin in der Vergangenheit oft ziemlich tollpatschig gewesen. Ziemlich, ziemlich. Meine gesamte Kindheit und Jugend waren geprägt von blauen Flecken auf der Haut und undefinierbaren in der Kleidung. Aber Oma war ja nicht besser. Wir waren gleichermaßen ungeschickt, sodass Verwandte bei Anlässen, die das Tragen ordentlicher Kleidung mit sich brachten, darum kämpften, wer zwischen uns sitzen muss. 
„Das war der Hund meiner Freundin, der hat mich beim Toben gekratzt. Ich befürchte, da wird eine Narbe bleiben“, antworte ich nach einer viel zu langen Pause. „Ach was. Bis zu deiner Hochzeit ist das wieder weg“, entgegnet Oma. 

Da war er also wieder. Der Spruch, der mich verfolgte, seit kurz auf die ersten Schritte die ersten Stürze folgten. Mittlerweile hatte ich ihn unzählige Male, von den unterschiedlichsten Stimmen, in den verschiedensten Betonungen, vernommen. Anscheinend besaßen alle Erwachsenen nur ein begrenztes Repertoire, um ein Kind auf eine unbedeutende Verletzung anzusprechen. 
Zu Beginn fand ich es lediglich nervig; ich hatte ohnehin noch keine Vorstellung von diesem abstrakten Konzept der Heirat. Als ich älter wurde, fragte ich mich, ob ich zwangsläufig heiraten müsse. Denn immerhin gingen alle Älteren nicht nur davon aus, dass es einmal „bis zu meiner Hochzeit” komme, sie schienen darüber hinaus auch eine ungefähre zeitliche Vorstellung dieses Ereignisses zu haben. 
Als Teenager hatte ich dann für mich beschlossen, dass diese Formulierung in angemessener Weise nur von Trauzeugen verwendet werden dürfe, die dem Bräutigam versichern, der Kater des Junggesellenabschieds werde sich schon rechtzeitig legen. 

Aber heute am Frühstückstisch freue ich mich zum ersten Mal diese Wortaneinanderreihung zu hören. Denn heute schwingt in diesem Spruch noch etwas anderes mit. Die subtile Erwartung, dass alles schon irgendwie gut werden wird. Auch wenn es sich nur um eine banale Wundheilung handelt, freue ich mich über den Hauch von Optimismus in Omas Worten, die zurzeit meist von Sorge geprägt sind, wenn sie von der Zukunft sprach. Zum ersten Mal reagiere ich also auf diesen Spruch nicht mit einem genervten Gesichtsausdruck, sondern mit einem Lächeln, welches direkt an Oma gerichtet ist.

Wie gerne würde ich jetzt ihre Hände festhalten, ganz fest, immer fester, bis sie sich nicht mehr bewegen können und ihr versichern: „Keine Angst, bis zu meiner Hochzeit ist das weg.” Doch leider wird dieses Zittern nicht mehr weniger werden. Ich schenke uns erneut Kaffee ein und wir verfallen in ein tiefes Gespräch. Als ich mich eine Stunde später vom Tisch erhebe, ergreift Oma meine Hand und sagt: Keine Angst Maurice, bis zu deiner Hochzeit bleib ich fit, wenigstens fit genug für einen gemeinsamen Tanz.“

Mit tränenbedecktem Gesicht trage ich diesen Text in einem Raum voller Leute vor, die Oma ebenfalls geliebt haben und die, wie ich, unendlich viel Liebe von ihr erfahren durften. Wie unbedeutend ist aus heutiger Sicht dieses mickrige Parkinson. Wie egal wäre es gewesen, ob du bis zu meiner Hochzeit noch vernünftig hättest laufen können. Ich hätte dich auf der Tanzfläche so fest an mich gedrückt, dass es schon funktioniert hätte. Wie egal alles andere geworden ist, in dem Moment, als Mama mir vom Krebs erzählte. Wie viel egaler es noch wurde, als wir am Rand deines Bettes saßen und deine Hand hielten. 

Ich weiß nicht, ob ich jemals heirate. Aber ich weiß, dass die Leere, die du hinterlässt und der Schmerz beim Gedanken, dass du nicht mehr da bist, unabhängig vom potenziellen Hochzeitsdatum, niemals vollständig verschwinden werden. Doch auch dieser Schmerz wirkt plötzlich unbedeutend, im Schatten der Erinnerung an deine Liebe.