Kerstin Werner
Auf der Suche nach Heilung
Ich sitze vor meinem Laptop und schaue mir  Evas Bild an. Sie ist mir von allen Frauen die sympathischste; ihre strahlenden  Augen und ihr natürliches Lächeln berühren mich so sehr, dass ich immer wieder  den Wunsch verspüre, mich ihr anzuvertrauen. Doch ist dieser Weg wirklich der  richtige für mich? Ich weiß es nicht. Ich sollte es einfach wagen.
Meine Hände zittern, während ich die  Tasten berühre. Ich klicke Evas E-Mail-Adresse an und beginne zu schreiben. Die  Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, Tippfehler schleichen sich ein, ich korrigiere  sie sofort, doch als ich endlich fertig bin, werde ich wieder unsicher. Ich  fühle mich elend, lösche die E-Mail und klappe den Laptop zu.
Verzweifelt schaue ich auf die Uhr. Es  bleibt mir nicht mehr viel Zeit, bis meine Vorlesung beginnt. Ich ziehe mich  rasch an, stecke den Laptop in meinen Rucksack und verlasse das  Studentenwohnheim.
Als ich den Hörsaal betrete, sind kaum  noch Plätze nebeneinander frei. Da entdecke ich Clara, sie winkt mir zu und ich  fühle mich erleichtert. Vor drei Wochen waren wir zusammen im Kino. Hinter uns  saßen ein paar Jungs, die uns die ganze Zeit belästigten, und da packte mich  panische Angst; ich stand plötzlich auf, ohne Clara etwas zu sagen, und verließ  eilig den Saal. Das nahm sie mir übel. Sie lief mir sofort hinterher, packte  mich draußen am Arm und sagte: „Es waren doch nicht etwa die Kerle, oder? Mit  denen wären wir fertig geworden. Wir hätten einfach nur die Plätze zu wechseln  brauchen.“ Natürlich hatte Clara recht, aber ich starrte sie nur entsetzt an  und brachte kein einziges Wort heraus. Seitdem bin ich ihr aus dem Weg gegangen  und habe auch keine Lehrveranstaltung mehr besucht.
Aber sie scheint mir nicht mehr böse zu  sein, sie lächelt mir zu und ich setze mich neben sie. Wenige Minuten später  beginnt der Dozent mit seinem Vortrag. Ich versuche, mich zu konzentrieren, aber  immer wieder denke ich an Eva und bereue, dass ich die E-Mail gelöscht habe.
Als die Vorlesung endlich zu Ende geht,  verabschiede ich mich von Clara und verlasse fluchtartig den Saal. Doch auf  einmal kommt Simon auf mich zu.
„Hallo Maira, schön, dich wiederzusehen!  Warst du krank?“
„Ja, aber es geht schon wieder“, sage ich.
„Kommst du heute Abend in den Turm?“
Ich schüttele den Kopf. „Hab schon etwas  vor.“
„Schade“, sagt er und sieht mich verlegen  an. „Ich hätte mich sehr gefreut. Na dann, Tschau Maira!“
„Tschau!“
Eigentlich mag ich Simon, aber die Angst,  wieder missbraucht zu werden, sitzt so tief, dass ich mich sofort verschließe.  Dabei sehne ich mich nach Geborgenheit und Liebe. Nach Zärtlichkeit und einer  festen Umarmung, die mir endlich Halt gibt.
Ich war siebzehn, als es passierte.  Seitdem habe ich mich wie in einem Kokon zurückgezogen, um mich vor sexueller  Gewalt zu schützen. Nie wieder bin ich in einen Club oder zu einer Party  gegangen, und als ich achtzehn war, bin ich sofort von zu Hause ausgezogen. Ich  will mit meiner Mutter nichts mehr zu tun haben; sie warf mir vor, ihren neuen  Freund verführt zu haben. Ich war fassungslos, konnte einfach nicht glauben,  was sie mir unterstellt hatte; noch heute bin ich wütend und bedaure, dass ich  damals nicht die Kraft fand, mich zu wehren und zu verteidigen. Ich wurde  brutal vergewaltigt und bekam die schrecklichen Bilder nicht mehr aus meinem  Kopf. War es wirklich meine Schuld, fragte ich mich immer wieder.
Die Begegnung mit Simon wühlt mich  innerlich auf, ich unterdrücke meine Tränen und begreife, dass es so nicht  weitergehen kann. Als ich zurück bin, setze ich mich rasch an meinen  Schreibtisch, öffne meinen Laptop und schreibe erneut eine E-Mail an Eva. Diesmal  schicke ich sie ab.
Zwei Stunden später antwortet sie mir und  schlägt vor, uns zunächst in einem Video-Gespräch kennenzulernen, um  herauszufinden, ob es für uns beide passen würde. Ich bin einverstanden und  bereits am nächsten Tag verabreden wir uns per Skype.
Meine erste Begegnung mit Eva fühlt sich  gut an. Eine Woche später besuche ich sie in ihrem Kuschelraum. Als sie mich  einlässt, bin ich überwältigt von der Schönheit dieses Raumes. Sonnenlicht  strömt durch das Fenster herein, wärmt den Parkettfußboden unter meinen Füßen  und lässt das Zimmer ganz hell erscheinen. Mein Blick fällt auf das große  Podest mit den farbenfrohen, weichen Decken und Kissen, die zum Hineinkuscheln  einladen. Überall im Raum stehen grüne Pflanzen, große und kleine, auf der Erde,  auf einem Tisch und auf einer Kommode – und auf einmal weiß ich, dass ich hier  gut aufgehoben sein werde.
Eva führt mich zu einem kleinen Tisch, der  mit einer Teekanne und zwei Tassen gedeckt ist. Sie zündet eine Kerze an und  fragt mich, ob ich gern mit ihr eine Tasse Weißen Tee trinken möchte, und als  ich bejahe, schenkt Eva uns ein. Wir setzen uns auf das kleine Sofa und trinken  entspannt unseren Tee. Dann macht sie mich mit allen Regeln vertraut, die  während einer Kuscheltherapie einzuhalten sind. Die wichtigste Regel für mich  ist, dass diese Therapie keine sexuelle Handlung zulässt, sondern jede  Berührung und Umarmung dem seelisch-körperlichen Wohlbefinden des Klienten  dient und immer im Einverständnis von beiden Seiten erfolgen sollte.
Nachdem Eva alles mit mir besprochen hat, sieht  sie mich vertrauensvoll an und fragt, welche Berührung ich mir heute wünsche.
„Eine Umarmung“, sage ich.
„Gut, dann komm!“, erwidert Eva und führt  mich zu dem großen Podest. „Magst du liegen oder stehen?“
„Ich glaube, ich möchte lieber stehen  bleiben.“
Eva öffnet ihre Arme und lächelt mir  aufmunternd zu. Ich drücke mich eng an sie, umschließe sie mit meinen Armen und  lasse mich einfach fallen. Ich spüre ihre festen Hände, ihre Wärme, ihr  klopfendes Herz, ihren Duft, ihre Sanftmut, ihre Liebe. Ich will sie nicht mehr  loslassen. Lange bleiben wir so stehen, und ich beginne leise zu weinen. „Lass  sie raus, die Tränen“, flüstert Eva. Und ich lasse es geschehen und genieße den  Augenblick, bis ich innerlich ganz ruhig werde. Eva hat meine Seele berührt und  behutsam meinen Kokon geöffnet.