Tonio Ganard

Mässetschuschätz

 

„Kneipenschlägerei im Ratskeller“, lautete die Nachricht, die zwei Einsatzwagen des örtlichen Polizeireviers, besetzt mit je zwei Beamten, mit Martinshorn und Blaulicht in Bewegung setzte. „Nur nichts überstürzen“, gab Heinz seinem Kollegen Rudi zu bedenken, worauf dieser noch einige Straßen vom Ratskeller entfernt mit eingeschalteten Sondersignalen hielt. Die Kollegen im zweiten Fahrzeug hielten ein paar Ecken weiter. Diese Taktik, die natürlich nicht explizit mit dem Revierleiter abgesprochen war, hatte sich vielfach bewährt. Warum die eigene Haut riskieren, wenn man die Kombattanten nicht auch durch den Sound der anrollenden Staatsmacht zur Besinnung bringen konnte? Nicht selten hatten sich die Unruhestifter schon vor Eintreffen der Polizei in alle Richtungen verdrückt und konnten – die hielten ja alle zusammen – später auch nicht durch Zeugenaussagen identifiziert werden. Selbst die Wirtsleute hatten gelernt, dass Schadensersatz leichter zu erhalten ist, wenn die Krawallbrüder nicht auch noch Geldstrafen berappen müssen und kümmerten sich lieber „diskret“ selbst um ihre Kunden.

Nachdem sie lange genug die nähere Umgebung beschallt und beleuchtet hatten, setzten sich die beiden Einsatzfahrzeuge wieder in Bewegung, um gerade noch jene Geschwindigkeit zu erzielen, mit der man kavaliermäßig auf dem Schotterparkplatz vor der Kneipe abbremsen konnte.

Heinz war auch hier nicht nach Eile zumute. Zum einen steckte ihm noch das Thanksgiving-Fest mit dem Deutsch-Amerikanischen-Freundschaftsverein in den Knochen, zum anderen war seine Gattin seit jenem Abend abgängig, wovon er die Revierkollegen, von denen die meisten ebenfalls mitgefeiert hatten, nicht unbedingt in Kenntnis setzen wollte.

Blöde Sache das. Eigentlich hatte er es ja selbst gar nicht so mit den Amis – Heinz sprach nicht einmal Englisch –, aber die Kollegen waren alle in diesem Verein und Tina hatte sich von Anfang an sehr begeistert gezeigt, gab es doch dort Square-Dance-Kurse und ein wenig Englisch radebrechen konnte sie auch. „Endlich können wir mal etwas gemeinsam unternehmen“, hatte sie geschwärmt.

Gemeinsam – ha!

Während Heinz mit Revierchef Kümmel und diesem „Körnel“ mit dem unaussprechlichen Namen an der Bar festgetackert war – keine Ahnung, worüber die beiden anderen da miteinander sprachen –, hatte Tina nicht nur Square-Dance getanzt. Da wäre ja ausreichend Platz geblieben. Nein, nach dem Gruppentanz fast ohne Anfassen kam erst Disko-Fox, dann dieser Tanz, der so ähnlich wie die Dippsauce heißt, ah ja, Salsa. Da war dann endgültig Schluss mit Platzlassen und Tina hatte dauernd an diesem Jüngelchen gehangen, einem „Sahschent“, wie es hieß, der war ja noch nicht einmal seine Akne los und Tina hatte nahezu haltlos ihren Unterkörper an dem gerieben.

Heinz musste die Augen schließen.

Und während Tina und der „Sahschent“ sich immer heftiger rieben, hatte ihm der „Körnel“ immer häufiger nachgeschenkt. Schließlich war Heinz so schlecht geworden, dass er sich nicht allzu lange mit der Suche nach seiner Ehefrau vom Heimweg abhalten lassen wollte, bzw. konnte. Nach zweimaligem Übergeben – das eine Mal auf dem Fußmarsch nach Hause nicht mitgerechnet, aber daran erinnerte er sich auch kaum – hatte er seinen wummernden Schädel einfach nur noch aufs Kopfkissen legen und einen Fuß auf den Boden stemmen können, letzteres, damit sich das Bett nicht ganz so schnell drehte.

Am nächsten Morgen – Heinz hatte dienstfrei – war dann statt seiner Tina neben ihm im Bett lediglich eine Nachricht auf seiner Mailbox: „Du … es ist aus, ich geh mit dem Mätt nach Mässetschuschätz.“ Das war jedenfalls die Kernaussage gewesen.

Irgendwie hatte er es dann noch zur Festhalle geschafft, denn Rudi und er hatten versprochen, die Deko, genauer, das 3 m lange Longhorn-Geweih (hieß das bei Rindern auch „Geweih“?) wieder zum örtlichen Autohandel, von wo es für das Fest ausgeliehen worden war, zurückzubringen. Das Ding passte nur in den Polizei-Bus. Und als er gerade mit diesen riesigen Hörnern über der Schulter auf dem Weg vom Parkplatz zum Autohaus die Hauptstraße überquerte, hatten nur etwa 200 Passanten mit ihren Handys Bilder vom „Bullen mit dem Bullengeweih auf der Hauptstraße“ geschossen und diese in die Sozialen Medien gestellt. Dass auf der Wache nach der hierdurch aufkommenden Heiterkeit auch noch herauskam, dass Tina ihm gerade noch ganz andere Hörner aufsetzte, also darauf konnte Heinz gerne verzichten.

„Irgendwann müssen wir aber schon da rein“, schreckte ihn Rudis Hinweis aus seiner Starre. Seufzend setzte sich Heinz mit den Kollegen im Gefolge in Bewegung. Wie erhofft, hatten die meisten Gäste und wohl auch die Schläger den Ratskeller bereits verlassen. Stühle und Tische lagen in der Gaststube wild durcheinander, der Boden war übersät von Scherben, es roch nach Bier, kaltem Zigarettenrauch und Klosteinen.

Und da, da in der Ecke, noch immer im Glitzerkleid und mit reichlich verschmiertem Make-up, da saß Tina und heulte.

„Was ist denn hier los?“, improvisierte Rudi, Heinz blieb sprachlos, die anderen Kollegen räusperten sich und glotzten verlegen in andere Richtungen.

Mätt ist weg“, schluchzte Tina.

„Wer ist Mätt?“, fragte Rudi und wandte sich an Heinz.

„Ihr Sahschent“, antwortete der.

„Wo is er denn hin?“, fragte Rudi.

„Nach Mässetschuschätz“, heulte Tina.

„Wie schreibt man das?“, wollte Rudi wissen.

„Weiß‘ nich.“

„Na, dann bleibt er wohl auch weg“, fasste Rudi zusammen. „Und wer hat das hier angerichtet?“, fragte er und blickte sich um.

„Ich“, weinte Tina. „Ich will wieder heim, Heinz.“

Und Heinz dachte an seinen Kater, das Bullengeweih auf der Hauptstraße, die Sozialen Medien, die Kneipenrechnung, die Kollegen, an den Körnel und den Sahschent, an Salsa und verschmierte Wimperntusche und an das durch Tina ewig besetzte heimische Badezimmer.

„M-a-s-s-a-c-h-u-s-e-t-t-s“, buchstabierte er langsam.